Interviews

„Leichte Sprache ist eine Chance“

| 8 min.

Annette Flegel ist eine anerkannte Expertin für Leichte Sprache. Die Pädagogische Leiterin der Lebenshilfe Main-Taunus zur grundsätzlichen Motivation, in bessere Verständlichkeit zu investieren, über Hindernisse und die besten Methoden.

Was ist prinzipiell mit dem Begriff Leichte Sprache gemeint?

Annette Flegel: Leichte Sprache ist stark vereinfachtes Deutsch. Diese Vereinfachung wird zum Beispiel durch sehr kurze Sätze oder zusätzliche Erklärungen erreicht. Meistens ergänzen erklärende Bilder den Text. Die Texte und Bilder werden von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf ihre Verständlichkeit geprüft.

Welche Zielgruppen haben Sie im Auge, wenn von Leichter Sprache die Rede ist?

Annette Flegel: Viele Menschen profitieren von einfach verständlichen Informationen – beispielsweise Menschen mit Demenz oder Menschen mit wenig Deutschkenntnissen. Texte in Leichter Sprache richten sich aber primär an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Diese haben zusammen mit Angehörigen und Unterstützer/-innen für die Leichte Sprache gekämpft und die ihr zugrunde liegenden Regeln entwickelt.

Können Sie ein Beispiel (oder mehrere) geben, das erklärt, wie Leichte Sprache komplexe ersetzt?

Annette Flegel:


Beispiel 1 – Ein kurzer Auszug aus einem Betreuungsvertrag:

Komplexe Sprache:

Wir sind nach unserer personellen und baulichen Ausstattung nicht darauf eingerichtet, Bewohner / Bewohnerinnen mit bestimmten Krankheitsbildern bzw. Versorgungsbedarfen — bspw. bei intervallweiser oder andauernder Beatmungsbedürftigkeit — zu versorgen.

Leichte Sprache:

Vielleicht wird eine Person sehr krank. Vielleicht braucht sie plötzlich sehr viel Hilfe. Dann können wir uns nicht mehr genug um sie kümmern. Wir haben nicht genug Pfleger und Pflegerinnen für die Person. Und wir haben nicht die nötigen Maschinen. Zum Beispiel: Wenn die Maschine Luft in die Lunge von der Person blasen muss. Deshalb muss die Person dann ausziehen. Andere Leute können ihr dann besser helfen als wir.


Beispiel 2 – Ein Hinweisschild:

Komplexe Sprache:
Der Abfall ist umgehend in den dafür vorgesehenen Behälter zu entsorgen.

Leichte Sprache:
Bitte werfen Sie den Müll sofort in den Mülleimer. Falls die Pflicht deutlicher benannt werden soll: Sie müssen den Müll sofort in den Mülleimer werfen.


Beispiel 3 – Ein kleiner Auszug aus einem Schreiben über eine geplante Lohnkürzung wegen Corona in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung:

Komplexe Sprache:

Die Löhne der Mitarbeiter mit Behinderung hängen vom Arbeitsergebnis ab, das sich aus den Produkten und Dienstleistungen ergibt, die sie fertigen beziehungsweise erbringen. Unter anderem dank guter Auslastung und technischer Innovationen konnte die Werkstatt in den zurückliegenden Jahrzehnten einen im Landes- wie im Bundesvergleich überdurchschnittlichen Lohn an die Mitarbeiter mit Behinderung auszahlen. Ohne die Einnahmen aus der Produktion kann die Werkstatt aber diese Löhne im bisherigen Umfang nicht dauerhaft finanzieren.

Leichte Sprache:

Vor der Corona-Krise hatte die Werkstatt immer viele Aufträge. Der Lohn war deshalb höher als in anderen Werkstätten. Aber jetzt hat die Werkstatt wegen Corona viel weniger Aufträge. Deshalb muss die Werkstatt die Löhne kürzen. Das bedeutet: Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bekommen weniger Geld.


An welchen Stellen kann jeder auf einfache Art und Weise Sprache so gestalten, dass sie leichter verständlich ist?

Annette Flegel: Im Gespräch mit anderen machen wir vieles oft ganz unbewusst richtig: Wir sprechen langsamer, wir erklären bestimmte Abkürzungen, die vielleicht nur in unserem Beruf üblich sind. Wir fragen nach, um sicherzugehen, dass wir verstanden werden und vieles mehr. All dies ist auch beim Schreiben wichtig. Wir sollten darauf achten, dass wir kein Wissen um Fremdwörter oder Sachverhalte voraussetzen. Eine klare Struktur, kurze Sätze, einfache Worte, und dort, wo das nicht geht, Erklärungen einfügen. All dies erleichtert Leser/-innen das Verständnis.

Sie haben eine Art Kompetenz-Center in der Lebenshilfe entwickelt. Wir haben ja auch schon zusammengearbeitet. Welche sind typische „Übersetzungs“-Aufgaben?

Annette Flegel: Texte in Leichte Sprache zu übertragen heißt, sich immer wieder in neue Themenfelder einarbeiten, denn nur, was man ganz genau versteht, kann man in Leichte Sprache übertragen. Die bisherigen Aufträge, die wir im Treffpunkt Leichte Sprache erhalten haben, sind thematisch vielfältig und reichen beispielweise von Hausordnungen, Schulregeln und Wohnverträgen zu Broschüren, die so unterschiedliche Themen wie Umweltschutz, Krieg, Wahlrecht oder Liebe & Sexualität behandeln bis hin zu Internetangeboten mit Beratung in Leichter Sprache oder Informationen über eine Stadt. 

Wie laufen diese Arbeits-Prozesse genau ab?

Annette Flegel: Zunächst sprechen wir mit dem Auftraggeber/der Auftraggeberin. Dies ist wichtig, denn Leichte Sprache heißt noch weitaus mehr als nur schwere Worte zu ersetzen und kurze Sätze zu bilden. In dem Gespräch kann es um Fragen gehen wie: Welche sind die wichtigsten Botschaften? Wo und wie wird der Text gelesen? Als Broschüre, Flyer oder im Internet? Jedes Medium stellt seine eigenen Anforderungen. Soll zum Beispiel ein Flyer erstellt werden, beraten wir zu Fragen wie: Welches Format ist geeignet, welche Farben, welches Papier, welche Bebilderung … Inhaltlich gibt es oft viel zu besprechen, daher ist eine enge Zusammenarbeit mit den Auftraggeber/-innen wichtig.

Im nächsten Schritt erstellen wir eine erste Rohfassung. Die Auftraggeber/-innen lesen und kommentieren diese. Als nächstes prüfen unsere Prüfer/-innen, ob der Text verständlich ist. Prüfer/-innen sind Menschen mit Lernschwierigkeiten, die in Schulungen gelernt haben, wie sie Texte prüfen können. Problematische Stellen werden verändert und verbessert, bis sie verstanden werden können. Der fertig geprüfte Text geht dann an zurück an die Auftraggeber/-innen.

Impliziert Leichte Sprache nicht auch, dass komplexe Zusammenhänge generell vereinfacht werden müssen – oder gar nicht kommuniziert werden können? Anders ausgedrückt: Steckt in der Vereinfachung nicht die Gefahr der Banalisierung?

Annette Flegel: Informationen werden durch Leichte Sprache nicht banal, sondern sie sind für einige Leser/-innen nur so verständlich. Das heißt aber nicht, dass alles überall und nur in Leichter Sprache sein sollte. Auch Fachsprache hat ihre Berechtigung, wenn sie sich wirklich an Fachleute richtet. Wo aber die breite Gesellschaft angesprochen werden soll, ist Leichte Sprache – als Zusatzangebot genauso wie Gebärdensprache oder Brailleschrift – unerlässlich. Denn jeder Mensch hat das Recht, zu verstehen. Wichtig ist dabei: Es ändert sich die Form, nicht aber der Inhalt. Das Beispiel aus der Werkstatt zeigt sehr eindrücklich: Einiges ist nicht so komplex wie die Worte, die es beschreiben. Oft sind es vielmehr Konventionen oder der Wunsch, nicht zu drastisch mit der Tür ins Haus zu fallen, die einen Text wortreich und komplizierter als nötig machen. Die Konsequenz ist aber, dass die Botschaft bei Empfänger/-innen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind, nicht ankommt.

Wo treffen Sie in der Praxis auf die größten Schwierigkeiten bzw. auf die härtesten Widerstände?

Annette Flegel: Die schärfste Kritik kommt, von Menschen, die sich Sorgen um die deutsche Sprache machen und nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die kognitiv nicht in der Lage sind, einen verschachtelten Satz, der über drei oder mehr Zeilen geht, zu verstehen. Diese Kritiker/-innen befürchten, die schöne deutsche Sprache würde verschwinden, dabei ist Leichte Sprache lediglich ein Zusatzangebot für all jene, die ohne sie keine Chance haben, Texte und andere Inhalte zu verstehen.

Zahlenspiele: Wie groß ist derzeit etwa der Anteil der geschriebenen Texte in Leichter Sprache an der Gesamtmenge? Und wie hoch soll die Quote künftig sein: 100 Prozent?

Annette Flegel: Die Frage kann ich nicht beantworten. Vielleicht liegt er bei 0.01%? Und wie groß sollte er sein? Sicher nicht bei 100 Prozent. Denn wie bereits gesagt: Einige Texte richten sich ausschließlich an Fachleute. Diese müssen auch nur von Fachleuten verstanden werden. Wenn beispielsweise ein Nobelpreisträger für Physik ein Buch für andere Physiker/-innen schreibt, gibt es wahrscheinlich wenig Bedarf nach einer Übersetzung in Leichte Sprache. Richtet sich ein Text aber an die breite Masse wie beispielsweise Informationen über Schutzmaßnahmen wegen Corona, dann ist eine zusätzliche Fassung in Leichter Sprache ein wichtiger Beitrag, damit alle informiert sind, teilhaben und die Maßnahmen umsetzen können.

Bezieht sich Leichte Sprache nur auf Geschriebenes? Oder genauso auf Gesagtes, Mimisches, Gestisches oder auch Symbolisches, etwa Grafisches?

Annette Flegel: Ja, Leichte Sprache meint all das. In den Anfängen gab es Leichte Sprache allerdings nur in schriftlicher Form. Heute wird aber auch in Leichte Sprache gedolmetscht. Das heißt, bei Veranstaltungen wiederholt jemand mündlich das Gesagte in leichteren Worten und kürzeren Sätzen. Auch gibt es mittlerweile einige Museen, die Führungen in Leichter Sprache anbieten. Hier sind Gestik und Mimik sicher auch ein Weg, Informationen zusätzlich zu verdeutlichen – so wie es Bilder und Gestaltung bei Texten tun. 

An welchen Stellen scheitern Sie, wenn es um die Vereinfachung in der Sprache geht? Bzw. Lernen Sie täglich dazu?

Annette Flegel: Theoretisch können wir alles in Leichte Sprache übertragen. Praktisch werden die Texte dann aber oft zu lang. Denn je dichter und komplexer der Ausgangstext, umso mehr muss ich bei der Übertragung in Leichte Sprache entzerren und verdeutlichen.  Gleichzeitig richtet sich Leichte Sprache aber an Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben – der Text in Leichter Sprache sollte also möglichst kurz sein. Dieser Widerspruch zwingt mich in der Regel dazu, nur die wichtigsten Inhalte auszuwählen und andere wegzulassen.

Wann wäre ein Grad erreicht, bei dem Sie sagen, wir haben einen guten Standard beim Thema Leichte Sprache erzielt?

Annette Flegel: Wenn praktisch jeder Mensch mit Lernschwierigkeiten Leichte Sprache kennt und diese auch einfordert, wenn etwas für ihn unverständlich ist. Wenn außerdem eine breite Masse in unserer Gesellschaft das Bewusstsein entwickelt hat, dass Leichte Sprache notwendig ist, damit bestimmte Menschen an Informationen teilhaben und selbstbestimmt Entscheidungen treffen können. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht.

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