Logo Hauptsache Kommunikation zum 15-jährigen Juibläum

Lesedauer im Netz ist länger als gedacht

von | 2. Mrz 2023 | Fachthemen

In der Kürze liegt die Würze? In vielen Online-Redaktionen herrscht die Meinung vor, dass Texte auf Websites möglichst kurz sein sollen, weil Usern die Zeit fehlt, sie vollständig zu lesen. Offenbar ein Irrglaube, wie Studien belegen. Hauptsache Kommunikation hat das zum Anlass genommen und für alle Magazin-Artikel die Lesedauer angegeben.

„Weniger ist mehr“, „kürzen geht immer“, „deine Texte in epischer Breite will niemand lesen“. Diese Sätze habe ich während meiner Ausbildung zur Texterin und Redakteurin ständig gehört. Vor allem das Online-Leseverhalten habe sich verändert: User litten schließlich unter der Fülle ständig verfügbarer Medienbeschallung, die Aufmerksamkeitsspanne sinke, die zur Verfügung stehende Zeit sowieso.

Kleiner Spoiler vorweg: Daran gehalten habe ich mich nicht. Zu schön ist schließlich das wortreiche Schreiben, zu groß mein Anspruch, dem Leser keine Informationen vorzuenthalten und zu bedeutsam mein eigenes Verhalten, Internetartikel bis zum Ende durchzulesen – wenn sie gut geschrieben sind und mich das Thema interessiert.

Funktionieren Websites wie Tanzflächen?

Als ich jedoch in diesem Jahr (mit knapp 40) mal wieder auf einer Faschingsparty (mit größtenteils 20-Jährigen) war, dämmerte mir, dass ich auf meine Ausbilder hätte hören sollen. Denn der dortige DJ spielte sämtliche Lieder nur für rund 30 Sekunden! Kaum hat man sich auf einen Song eingeschossen, den Rhythmus in Beinarbeit übersetzt und ein paar Textfetzen aus dem Langzeithirn gekramt: ZACK! Neuer Hit! Meine (gleichaltrige) Begleitung und ich verließen nach 20 Minuten entnervt die Tanzfläche. Die Menge im Saal aber schien sich prächtig zu amüsieren. Ist das also die Generation TikTok, die Videos nur im 15-Sekunden-Takt ansieht, Voicemails nur in doppelter Geschwindigkeit abhört und sich innerhalb eines Swipes verliebt? Lange Rede (mea culpa), zurück zum Thema Text: Überleben, wie bei Darwin, nur die am besten angepassten Individuen – bis auf die Essenz heruntergekürzte Textbeiträge?

Trend zeigt: Online-Texte werden länger

Demgegenüber stehen Entwicklungen, die der Medienanalyse-Dienstleister „pressrelations“ in einem Artikel 2019 beschreibt: Nämlich, dass Online-Artikel in der Zeit von 2007 bis 2019 länger geworden sind – die Zeichenzahl stieg von durchschnittlich 514,4 auf immerhin 722,6.

Sogar im Boulevardsegment sei der Trend zu beobachten. „Selbst bei bild.de, genremäßig verpflichtet, textarm, fotolastig und reißerisch maximale Aufmerksamkeit zu erzeugen, stieg die Zeichenzahl je Artikel von 133 (2007) auf 547 Zeichen (2019).“ Der Untergang von Konzentrationsfähigkeit und Bildung stehe nicht bevor, heißt es zudem.

Tatsächlich werden Blogposts ab 1.000 Zeichen von Google als wertvoller betrachtet und höher gerankt. Das erste Google-Suchergebnis habe durchschnittlich sogar 2.416 Wörter und eine ideale Lesezeit von etwa sieben Minuten. Zum Vergleich: Sie haben mit diesem Text bisher nicht mal ein Fünftel davon gelesen.

Vor allem junge User lesen länger

Dass sich diese Tendenz aus dem Jahr 2019 auch im Heute widerspiegelt, bestätigt Prof. Simone C. Ehmig vom Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen: „Aktuelle Erhebungen wie beispielsweise die ARD/ZDF-Massenkommunikation Trends aus den vergangenen Jahren zeigen, dass vor allem junge Menschen deutlich mehr Zeit mit Lesen in digitalen Medien verbringen (Suchmaschinen, Websites, Apps, Social Media) als der Bevölkerungsdurchschnitt.“ Sie lesen deutlich länger digital als in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, erklärt die Expertin. Durch die Nutzung von Internet und digitalen Kommunikationswegen haben sich Lesezeiten deutlich erhöht und die Anforderungen an Lesekompetenzen vervielfältigt.

Idealer Text hat 1.400 Wörter und ist gut scannbar

Das lässt sich auch in vielen weiteren Veröffentlichungen zum Thema nachlesen. „Skimming“ und „Scanning“ – das überfliegende und auswertende, nicht-lineare Lesen – setzen sich als Standards beim Online-Lesen durch. Denn da die Leser:innen heute schnell zwischen verschiedenen Medien und Inhalten wechseln, müssen Texte mithilfe von Zwischenüberschriften, (farblich) abgesetzten Textkästen und Fettungen gut erfassbar, also scannbar, sein. Lesen sei weniger zur Entspannung da, sondern vielmehr, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Wissen bereitzustellen, heißt es im „prmagazin“.

Wie lang ist aber nun heute der ideale Text im Internet? Laut einer Studie der Unternehmensberatung Schickler und der Deutschen Presse-Agentur liege das optimale Verhältnis aus Textlänge und Media Time bei 1.400 Wörtern. Dazu wurden 750.000 Artikel auf 30 regionalen News-Portalen untersucht und der Zusammenhang zwischen Artikellänge und durchschnittlicher Lesezeit analysiert. Erstaunliche Erkenntnis dabei: 90 Prozent der Artikel sind zu kurz. Die meisten Beiträge könnten also mehr Lesezeit erreichen, vorausgesetzt, dass das Thema spannend ist.

Die Studie widerlegt auch die Annahme, dass Leser:innen lange Texte auf dem Smartphone verschmähen. Die optimale Artikellänge liege auch hier bei 1.400 bis 1.800 Wörtern. Zudem werde an Wochenenden nicht mehr gelesen als an Wochentagen. Bis zu einer Artikellänge von 1.400 Wörtern sei die Leselust unter der Woche sogar ausgeprägter.

Fazit

Was lernen wir also daraus? Tatsächlich haben die heutigen Internetnutzer:innen eine sehr viel längere Lese-Ausdauer, als gedacht. Selbst dieser Text, dem ich inhaltlich kaum mehr etwas hinzufügen möchte, erreicht jetzt mit 750 Wörtern gerade einmal gut die Hälfte der empfohlenen Länge. Ihn künstlich aufzublähen wäre aber kontraproduktiv – denn wenn Leser:innen sich langweilen, springen sie ebenfalls ab.

Ich hoffe also, Sie haben bis hierhin durchgehalten. Und ich hoffe außerdem, dass hiesige DJs von der Rezipierfreude – auch und vor allem junger Menschen – erfahren und Lieder auf Partys wieder länger ausspielen. Das hat anscheinend auch TikTok mitgekriegt: Und die ursprünglich erlaubte Videodauer von 15 Sekunden im vergangenen Jahr auf satte 10 Minuten erhöht. Denn auch das ist das Schöne am Internet: Wem’s nicht gefällt, der klickt woanders drauf. Und auf einer Party kann man die Wartezeit bis zum nächsten Hit auch mal ganz gut an der Bar überbrücken.

Hauptsache Kommunikation